Süß wie Schattenmorellen
»Es liest sich strotzend vital. Es macht Spaß, wenn Claudia Schreiber die Welt auf dem Wachstuch der Landwirtsküche erklärt. Sie hat viel vom Leben zu erzählen, ein Plus, das vielen Autoren heutzutage abgeht.« Thomas Linden, Kölnische Rundschau
In Annies Familie waren die Dinge schon immer etwas anders als bei den anderen. Doch als würde es nicht reichen, dass sie ohne Vater aufwächst und ihr Großvater mit seiner jungen Geliebten kurzerhand in den Urlaub verschwindet, macht sich zugleich auch noch ihre gestresste Mutter aus dem Staub und lässt die 14-Jährige allein auf der Schattenmorellenplantage der Familie zurück. Gewohnt anzupacken, nimmt Annie die Arbeit unerschrocken in Angriff, und als eines Tages die hochschwangere Paula auftaucht und vor ihren Augen einen Jungen gebärt, rettet Annie dem neugeborenen Kind sogar das Leben. Aber auch den Erwachsenen um sie herum greift sie immer wieder mutig unter die Arme, denn die haben ihr Leben keineswegs besser im Griff als die Jugendlichen.
Leseprobe
Annie
Am liebsten stand Annie am höchsten Punkt der Kirschplantage und kletterte noch in einen Baum, um von dort aus alles zu überblicken. Rings herum wuchs der Wald, ihr Horizont war eine grüne Linie aus Eichen, Buchen und Tannen. Die Felder lagen da wie braune oder gelbe Teppichfliesen, die Decke war blau und weiß. Hecken und Büsche schienen in Form geschnitten zu sein, als wären sie Schränke und Kommoden, das dichte Gras war weich und gemütlich wie ein Polster. Dies war ihr Wohnzimmer, geräumig genug und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt, im Sommer hatte sie sogar immer frische Blumen und Obst parat. Annie fand es hier tausendmal gemütlicher, als im muffigen Haus der Familie zu sein.
Die Mutter hatte ihr schon früh eine Trommel um den Bauch gebunden, zwei kurze Stöcke gereicht und sie losgeschickt, damit sie mit ihrem Krach und Gebrüll die Stare aus der Kirschplantage verjagte – so sollten nicht nur die Vögel, sondern vor allem auch das Mädchen, das angeblich an den Nerven ihrer fahrigen Mutter pickte, zumindest den Hochsommer über keinen größeren Schaden anrichten.
Auch in diesem Jahr lief und lärmte Annie in den Feldern herum, obwohl sie inzwischen kein Kind mehr war, dies aber allem Anschein nach niemanden wissen lassen wollte. Ihre kurze sandfarbene Baumwollhose wurde von einem Gummiband gehalten, an der rechten Seite war eine Tasche eingenäht, die mit einem Reißverschluss zugemacht werden konnte; hier verwahrte sie, was ihr wichtig war – eine Handtasche zu tragen wäre ihr lächerlich vorgekommen. Ihre dunklen Haare waren störrisch dick und von ihr selbst gestutzt. Der lange Pony hing ihr deshalb vor den Augen, die regelrecht schwarz waren, häufig wischte sie sich die Haare aus dem Gesicht. Meist hatte sie einen kritischen, wenn nicht gar aufsässigen Gesichtsausdruck, den Mund dabei leicht geöffnet – ein Fremder musste sich fragen, ob das ein Widerwort werden sollte oder ein erschöpftes Ausatmen.
Die Plantage zog sich sanft den Hügel hinauf, reichte auf der anderen Seite runter bis zum Holzschuppen am Bach und dahinter wieder hoch bis zum Waldrand. Annie stellte sich gern vor, diese kleinen Neigungen des Geländes seien große Wellen und sie selbst ein Schiff mit schwarzen Segeln, das im Sturm ganz allein die Wasserwände anging. Und wenn es so brühend heiß war wie im Moment, wenn die Luft bewegte sich kaum, die Hitze über dem Asphalt flimmerte, wenn der Schweiß den Männern von der Stirn über den Hals ins Hemd floss und den Frauen feucht unter den Brüsten stand, wenn die Kuhherden eng gedrängt unter Bäumen einen letzten schattigen Platz fanden und die Hunde verzweifelt schnell hechelten, malte sich Annie aus, eine Beduinin zu sein, die der Hitze trotzte, die auf ihrem Kamel ritt, statt zu rennen, und die hohen Sandberge einer fernen Wüste bezwang, auch wenn es in Wirklichkeit nur erdige, trocken-harte Buckel waren. Oder ihr schien, als spiele sich in der Welt da draußen ein Kriminalfall ab und sie wäre mittendrin, denn Tausende schwarze Verbrecher schlitzten die Früchte auf wie die prallen Bäuche hilfloser Opfer, roter Saft spritzte auf die Blätter und Äste. Die Gier der hungrigen Tiere war sogar zu hören, sie schmatzten, besudelten einander mit Kirschblut und berauschten sich daran. An einem Ende der Plantage schlich Annie sich an die Räuber an, hob langsam beide Arme, schlug endlich auf die Trommel, so fest sie konnte, und schrie, so laut sie es fertigbrachte. Am frühen Morgen scheuchte ihr Krach die Vögel noch hoch, sie brachen ihren Raubzug ab, flogen auf und zerstreuten sich in der Luft, besannen sich dann, vom Hunger getrieben, fanden sich zum Schwarm und kamen am anderen Ende der Plantage wieder herunter, besetzten dort die Bäume und fraßen weiter.
Annie verfolgte die Horde, bis sie genau unter den Schädlingen war. Sie sah und hörte, wie die Tiere mit scharfen Schnäbeln zupickten, das Fruchtfleisch an sich rissen, schlürften, schluckten. Kirschsaft tropfte auf Annie herab, dazu rieselten die Exkremente der Blattläuse auf sie nieder – ausgerechnet Honigtau wurde das genannt. All das sammelte sich den Tag über auf ihrer Haut wie Zuckerguss, klebte ihr im Nacken, im Haar, juckte ihr im Gesicht und unter den Achseln. Sie schlug zu, wenn es den Viechern am besten schmeckte, lärmte mit ihrer Trommel, brüllte wie eine Furie, die Meute schreckte hoch, Annie keuchte hinterher, zum anderen Ende der Plantage. Äste schlugen ihr bei diesen Wettläufen ins Gesicht, kratzten ihr die Wangen auf, mit bloßem Unterarm wischte Annie sich Schweiß, Tränen und Schmutz ab. Runter und rauf, immer den Vögeln nach, die schon vorausgeflogen waren, aussichtslos, wieder und immer wieder, ein andauerndes Hin und Her.
(c) Verlag Kein&Aber Zürich und Berlin 2011